Die „besten Stimmen Deutschlands“ zu Gast in Neuendettelsau

Die Rockband „Remedy“ bot einen Workshop für Menschen mit Behinderung an

Neuendettelsau (elk) – Einmal auf der Bühne stehen und bejubelt werden – davon träumt fast jeder. Für sechs Bewohnerinnen und Bewohner aus der Heckenstraße 7 in Neuendettelsau ging dieser Traum jetzt in Erfüllung: Die Rockband „Remedy“ aus Bayreuth hat mit ihnen gemeinsam Songs erarbeitet und geprobt, die anschließend bei einem öffentlichen Konzert aufgeführt wurden.

 

Birgit, Ingo, Roswitha, Julien, Sascha und Wolfgang wird der 4. November 2012 noch lange in Erinnerung bleiben. An diesem Tag standen sie gemeinsam mit der Rockband „Remedy“ bei deren Konzert  in Neuendettelsau auf der Bühne.

Die vier 16-jährigen Bayreuther Jungs Benedikt, Henrik, Tim und Franz sind Vollblut-Musiker. Vor zwei Jahren haben sie ihre Band „Remedy“ gegründet. Schlagzeuger Benedikt sagt dazu: „Für uns ist Musik wie ein Heilmittel in allen Lebenslagen. Der Bandname Remedy, der aus dem Englischen kommt und Heilmittel bedeutet, entstand einfach aus der Tatsache heraus, dass es uns automatisch besser geht, wenn wir Musik machen. Musik, und damit auch die Band, ist also sozusagen unser Heilmittel.“

 

Musik als Heilmittel

Der größte Erfolg der Gruppe war bisher die Teilnahme am KIKA-Wettbewerb „Beste Stimme Deutschlands“, bei dem sie sich gegen über 1000 Bands durchsetzen konnten und den dritten Platz erreicht haben. Durch einen damit verbundenen Fernsehauftritt wurde die Koordinatorin der Erwachsenenbildung in Neuendettelsau, Kordula Müller, aufmerksam auf die Band und lud sie ein, nach Neuendettelsau zu kommen – prompt folgten die Schüler der Aufforderung und boten einen Workshop für musikbegeisterte Bewohner an. Über 20 Leute wollten gerne teilnehmen, leider konnten es letztlich nur sechs. Die Auserkorenen freuten sich dafür umso mehr auf das musikalische Wochenende. Auch die angehenden Abiturienten aus Bayreuth, die ein musisches Gymnasium besuchen und sich durch die Schule kennengelernt haben, waren voller Vorfreude auf das Event: Nicht nur die Arbeit mit neuen „Bandmitgliedern“, sondern auch der Besuch in Mittelfranken und das anstehende Konzert in neuen Gefilden sorgten für Aufregung im Vorfeld.

Als es dann endlich soweit war, wurden die „Remedy“ herzlich in Neuendettelsau begrüßt. Bereits für den Workshop am Samstag halfen zwei Schüler des hiesigen Laurentius-Gymnasiums mit, die Technik in der Turnhalle aufzubauen. So kam schon bei den Proben am Vortag des Konzerts ein richtiges „Rockstar-Feeling“ auf.

 

„Remedy“ bekommt sechs neue Bandmitglieder

Leider konnte der Bassist der Band, Franz Lang, am Workshoptag nicht vor Ort sein und reiste erst zum Konzert an. Deshalb durften sich jeweils zwei Teilnehmer ein Bandmitglied aussuchen, mit dem die Songs in Kleingruppen erarbeitet wurden. Benedikt Wiehle, der in der Band für die Rhythmik am Schlagzeug verantwortlich ist, schnappte sich drei Cajóns (Schlaginstrumente) und übte gemeinsam mit Roswitha und Wolfgang die Percussion zu den Bühnenauftritten ein. Henrik Wattenbach, der Sänger und Gitarrist der Band, wurde von Ingo und Birgit als Gruppenleiter ausgewählt. Ingo, der bereits Mundharmonika spielen konnte, durfte sein Können bei „Knocking on Heavens Door“ präsentieren. Birgit, die sich ebenfalls an der Gitarre versuchte, bekam dafür von Henrik viel Lob: Aussagen wie „Du machst das wirklich klasse!“ und „Das klingt total super!“ motivierten zum Weiterüben. Birgit hatte sehr viel Spaß bei dem Workshop und würde gerne wieder einmal auf der Bühne stehen. Allerdings „müsste die Aufregung davor nicht unbedingt sein“, so ihr Fazit.

Die letzte Gruppe, in der Sascha und Julien mitmachten, wurde von Tim Buskies geleitet. Der Gitarrist hatte sich leider bei einem vorherigen Auftritt verletzt, weshalb er bei dem Workshop nur in seiner Funktion als Background-Sänger tätig war und mit seinen Schützlingen Text und Gesang einstudierte. Besonders Julien freute sich sehr auf das Konzert und hatte extra ein T-Shirt, auf dem „Sportfreunde“ stand, getragen – passend zu seinem Auftritt, bei dem er zu „Ein Kompliment“ von den „Sportfreunden Stiller“ sang.

Auch Ingo hatte extra ein T-Shirt für den Tag gestaltet, auf dem ein großer Notenschlüssel zu sehen war, wie er freudig während des Workshops berichtete.

Alle Bandmitglieder waren begeistert von den Fähigkeiten der Workshopteilnehmer und dem, was innerhalb der kurzen Zeit erarbeitet werden konnte. Besonders Henrik freute sich, „so viel Neues an diesem Tag gelernt zu haben“, wie er betonte. Auch Benedikt lobte die „Konzentration und Professionalität“ der Musiker, denn es sei „nicht selbstverständlich, dass auf die Bitte sofort Ruhe einkehrt und jeder die Tipps und Ratschläge so gut beherzigt“, wie es die sechs jungen Damen und Herren mit Behinderung getan haben. Tim war begeistert, wie „gut Julien und Sascha bereits singen konnten“ und fand es eine „wunderbare Erfahrung, hier zu sein“. Alle drei „remedys“ waren am Ende des Workshoptages dankbar für die neuen Erfahrungen und hatten bereits Freundschaft mit ihren neuen Bandmitgliedern geschlossen.

 

„It’s Showtime“ für Remedy und die Workshopteilnehmer

Der Konzerttag begann mit viel Regen, der bei den letzten Probedurchgängen einfach „weggerockt“ wurde. Jan Sereny und Julian Rotter, beide aus dem Technik-Team des Laurentius-Gymnasiums, kamen schon frühzeitig zum ersten Soundcheck.

Anschließend wurden Banner aufgehängt, die Bühne dekoriert und die letzten Leute eingeladen – für die Band der ganz normale Ablauf, dafür aber umso aufregender für die sechs Nachwuchsmusiker aus Neuendettelsau. Die ersten Fans, die die Halle stürmten, waren die Familien der Musiker, die alle zur Unterstützung aus Bayreuth nach Neuendettelsau kamen. Jakob Wiehle, der jüngere Bruder von Schlagzeuger Benedikt, baute schon vor Konzertbeginn eine Kamera mit Stativ auf: „Ich filme das Konzert, das mache ich eigentlich bei fast jedem Auftritt“, erklärt er seine professionellen Handgriffe.

So langsam füllte sich dann der Raum: Viele Freunde und Verwandte der Musiker aus Neuendettelsau freuten sich darauf, ihre Angehörigen auf der Bühne zu sehen. Auch noch mehr Schüler des Laurentius-Gymnasiums waren gekommen: „Eine Rockband vor unserer Haustür? Das können wir uns nicht entgehen lassen!“, so die Begründung für das Kommen.

Die Turnhalle des Bereichs Wohnen Neuendettelsau wirkte fast zu klein für das Event: Wenige Minuten vor Konzertbeginn war jeder Sitz- und Stehplatz besetzt. Das E-Treff-Team versorgte die Besucher mit Süßigkeiten und Getränken, im Hintergrund liefen ein paar Songs von Remedy über die Musikanlage. Die Vorfreude, das alles bald auch live zu hören, war deutlich spürbar.

Und dann war es endlich so weit: Benedikt, Henrik, Tim und Franz betraten die Bühne. Jan und Julian drehten die Lautstärkeregler nach oben. Schon bei den ersten Tönen der Band, die das Konzert mit einem selbstgeschriebenen Song eröffneten, konnten sich viele nicht mehr auf den Stühlen halten: Es wurde getanzt, gelacht und mitgesungen. Die Band präsentierte sieben eigene und sechs gecoverte Songs, bei zweien davon wurden sie von ihren Workshopteilnehmern unterstützt. Die waren alle sichtlich aufgeregt, als sie im Backstage-Bereich auf ihren Auftritt warteten. Aber nachdem sie mit viel Applaus auf der Bühne begrüßt wurden und die ersten Zeilen von „Ein Kompliment“ der  „Sportfreunde Stiller“ angespielt waren, war von Nervosität nichts mehr zu merken: Sehr professionell und konzentriert meisterten Wolfgang, Roswitha, Julien, Sascha, Ingo und Birgit ihren ersten Auftritt. Unter tosendem Jubel zogen sie sich wieder zurück, um sich auf den Song „Knocking on Heavens Door“ vorzubereiten. Währenddessen heizten Benedikt, Henrik, Tim und Franz dem Publikum weiter ein.

Und hatten damit mächtig Erfolg: Wer nicht direkt das Tanzbein schwang, konnte sich zumindest einen wippenden Fuß nicht verkneifen. Die Vorfreude auf den nächsten gemeinsamen Song wuchs von Minute zu Minute: Endlich durften die Workshopteilnehmer ein zweites Mal Bühnenluft schnuppern. Auch diesmal meisterten sie den Auftritt mit Bravour, viel zu schnell war er vorbei.

 

Erleichterung und Stolz machen sich nach dem erfolgreichen Auftritt breit

Als die Band ihren letzten Song ankündigte, war die Enttäuschung groß. Erst nach zwei Zugaben, bei denen noch einmal die mit den Workshopteilnehmern erarbeiteten Lieder gespielt wurden, durften alle die Instrumente weglegen. Anschließend bedankte sich die Bewohnervertretung mit einem Blumenstrauß bei Kordula Müller für ihr Engagement, das ebenfalls durch den tosenden Applaus von den Konzertbesuchern honoriert wurde. Daraufhin leerte sich die Bühne, das Rockkonzert von Remedy und den Workshopteilnehmern war zu Ende.

Stolz auf sich und ihre Leistung ließen sich Julien und Sascha auf die Schulter klopfen. Ingo bedankte sich dafür, dass er mitspielen durfte und Birgit zeigte ihren Mitbewohnern stolz das Gitarren-Plektrum, mit dem sie eben noch gespielt hatte. Wolfgang half tatkräftig mit, die Instrumente sowie sämtliche Kabel wieder aufzuräumen und Roswitha, die schon zu Beginn des Konzerts den Betreuern bei ihrer Arbeit geholfen hatte, brachte ihre Mitbewohner zurück auf ihr Zimmer. Obwohl sie noch vor wenigen Minuten gemeinsam mit Benedikt, Henrik, Tim und Franz auf der Bühne gestanden haben, zeigten sich also anschließend keine Star-Allüren, sondern Hilfsbereitschaft und Sympathie.

Das wird sicher auch den „Remedy“ noch lange in Erinnerung bleiben, die das Wochenende gerne verlängert hätten. Aber leider mussten alle vier am Montag wieder die Schulbank in Bayreuth drücken, denn auch Rockstars brauchen einen guten Schulabschluss. Und wenn sie nach dem Abitur in zwei Jahren richtig durchstarten, geben sie bestimmt gerne wieder ein Konzert in Neuendettelsau. Vielleicht sogar zusammen mit Wolfgang, Roswitha, Julien, Sascha, Ingo und Birgit.

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