Die Geschichte von der Kartoffelweihnacht

Aus den Erzählungen von Anneliese Trede (1927-2011)

Nach der Flucht im März 1945: Zwei kleine Zimmer waren unser erstes Quartier. Wir – meine Mutter, die beiden jüngeren Brüder und ich mit meinen 17 Jahren als die älteste – hatten ein Dach über dem Kopf und ein Bett zum Schlafen. Aber es gab nicht genug zu essen. Wenn ich heute darüber nachdenke, frage ich mich, wie meine Mutter es geschafft hat, uns satt zu machen. Na ja, so richtig satt war man eigentlich nie damals. Was aber schmerzlich fehlte, waren die Menschen, mit denen man sein bisheriges Leben zusammen gelebt hatte. Als dann endlich im Laufe des Jahres 1945 die Möglichkeit bestand, alte Freunde und Verwandte wiederzutreffen, war das schon ein Lichtblick. Das Problem bei den Besuchen waren die total überfüllten Züge, die Unterkunft und das Essen. Trotzdem war die Freude groß, als kurz vor Weihnachten 1945 Mutters Freundin, Tante Frieda, mit ihren Jungen vor der Tür stand. Es wurde zusammengerückt und die Gespräche kreisten um die Väter, von denen man nicht wusste, ob sie noch lebten und um den Alltag als Flüchtlinge. Nach drei Tagen war aber klar, die Besucher konnten nicht bleiben, denn es gab nicht genug zu essen für alle, und zum Tauschen oder für den Schwarzmarkt hatten wir nichts. So packten dann die Freunde am Tag vor Heiligabend ihre spärlichen Sachen zusammen und machten sich zu Fuß auf zum Bahnhof. Zurück blieben wir, traurig besonders meine Mutter, für die ein gemeinsames Weihnachtsfest mit den Freunden ein kleines bisschen Heimat gewesen wäre. Dass wir es dann doch noch zusammen feiern konnten, ja, das ist die Geschichte von der Kartoffelweihnacht. Auf dem Bahnhof angekommen, konnten unsere Freunde zwar Fahrkarten kaufen, aber auf dem Bahnsteig wartete mit ihnen eine unübersehbare Menschenmenge. Als der Zug einlief, war er schon übervoll, so dass kaum noch jemand reinkam. Vergeblich versuchten es unsere Freunde. Es war hoffnungslos. Neben ihnen versuchte auch ein Mann mit einem offensichtlich schweren Rucksack reinzukommen. Als der Zug anfuhr, der Mann halb drin war, warf er seinen schweren Rucksack auf den Bahnsteig, um noch mitzukommen. Da lag er auch noch, als die Menschen sich verliefen. Als niemand mehr da war, öffneten die drei Stehengebliebenen den Rucksack. Er war voller Kartoffeln! Ohne lange zu überlegen, packten sie gemeinsam an und es ging zurück zu uns. Groß war die Überraschung und Freude, als sie wieder vor der Tür standen und besonders natürlich über das, was sie mitbrachten. Bald stand ein großer Topf mit Pellkartoffeln auf dem Tisch, die mit ein bisschen Salz köstlich schmeckten. Zum ersten Mal seit Monaten konnten wir uns so richtig satt essen. Für Heiligabend zauberte meine Mutter dann noch eine Soße zu den Kartoffeln, und es wurde ein Festessen. Am zweiten Festtag verließen uns die Freunde, konnten noch eine kleine Tasche mit Kartoffeln mitnehmen und auch für uns blieben welche übrig. Jetzt wo ich dies schreibe, denke ich an den Mann, dessen Fest nun vielleicht ganz ohne Kartoffeln stattfand. Aber daran haben wir damals, fürchte ich, nicht gedacht. Die Kartoffelweihnacht 1945 blieb uns bis heute unvergessen.

Textbearbeitung und Foto: Susanne Hassen

Foto: Kartoffelweihnacht.jpg

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