Woher kommen die Konflikte im Libanon?
Persönliche Eindrücke von Dr. Hermann Vorländer
Die Nachrichten von der Katastrophe in Beirut haben mich erschüttert. Ich selbst habe zusammen mit meiner Familie in den 1970er Jahren im Libanon gelebt und die Menschen dort kennen- und lieben gelernt. Als Schweiz des Orients wird der Libanon gern bezeichnet mit seinen lieblichen Bergen, seiner üppigen Vegetation, seinem blauen Meer, seiner uralten Kultur und nicht zuletzt seinem bunten Leben als Wirtschafts- und Finanzzentrum. Doch unter der Decke brodelt es. Das Land kommt nicht zur Ruhe. Als wir 1972 nach Beirut reisten, lag das Olympiamassaker in München nur wenige Wochen zurück. Palästinensische Terroristen hatten elf israelische Sportler zu Geiseln genommen und ermordet. In Beirut hörten wir eines Nachts Schüsse und erfuhren am Morgen: In unserer Nähe waren israelische Soldaten gelandet und hatten vier Palästinenserführer in ihren Betten erschossen. 1973 erlebten wir die Auswirkungen des Jom-Kippur-Kriegs im nahegelegenen Palästina. 1974 gab es Kämpfe zwischen libanesischer Armee und Palästinensern. Immer wieder wurden Ausgangsbeschränkungen verhängt, ähnlich wie wir sie jetzt in der Corona-Zeit erlebt haben. 1975 begann der Bürgerkrieg im Libanon. Ein Jahr lebten wir in Beirut mit Kampfnächten und Anschlägen. Schließlich wurden wir samt unseren vier kleinen Kindern 1976 mit einem britischen Konvoi in Bussen nach Damaskus evakuiert. Die Spannungen im Libanon haben innere und äußere Gründe. Auf engem Raum leben hier sehr unterschiedliche Religionsgruppen zusammen: Christen diverser Konfessionen, sunnitische und schiitische Muslime, sowie Drusen, eine Abspaltung des Islam. Seit 2500 Jahren lebten die Menschen im Libanon unter fremden Herrschern. Jede der verschiedenen Gruppen konnte ihre religiöse und ethnische Identität nur durch engen Zusammenhalt bewahren. Bei der Staatsgründung 1943 einigte man sich deshalb darauf, dass alle Positionen in Regierung und Verwaltung vom Chef bis zur Putzfrau nach einem Konfessionsproporz verteilt werden. So muss nach einem ungeschriebenen Gesetz der Staatspräsident immer ein maronitischer Christ, der Ministerpräsident ein sunnitischer Muslim, der Parlamentspräsident ein schiitischer Muslim, der Außenminister ein griechisch-orthodoxer Christ sein. Die Loyalität der Libanesen gilt traditionell in erster Linie ihrer eigenen Gruppe und ihren Führern. Oft herrschen Vetternwirtschaft und Korruption. Viele gebrauchen den Staat, um wirtschaftliche und politische Vorteile für ihre Gruppe zu erreichen. Neben den fast sieben Millionen Einwohnern des kleinen Landes gibt es über eine Million Flüchtlinge aus Syrien. Von außen mischen sich andere Mächte immer wieder ein, denen das kleine, zerrissene Land hilf los ausgesetzt ist. Die Christen werden vom Westen, insbesondere Frankreich, unterstützt, insgeheim wohl auch von Israel, das von ihnen Stabilität erhofft. Die schiitische Hisbollah erhält Unterstützung vom Iran, die Sunniten von Saudi-Arabien. Auch der Nachbar Syrien will immer wieder seine Interessen durchsetzen. Solange der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nicht einigermaßen vernünftig gelöst wird, wird es auch keinen Frieden im Libanon geben. In den vergangenen Monaten forderten Demonstranten immer wieder die Reform des konfessionellen Systems und das Ende der Herrschaft der traditionellen Eliten. Der Staat ist pleite, die Wirtschaft liegt am Boden. Nun kamen Corona und die Explosionen im Hafen von Beirut hinzu. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebte bereits vorher unterhalb der Armutsgrenze. Nun sind Hundertausende obdachlos, die halbe Stadt ist zerstört. Unter den Christen gibt es auch kleine protestantische Kirchen. Für sie bildet die „Near East School of Theology“ (NEST) Pfarrer und Pfarrerinnen, Religionslehrer und Religionslehrerinnen aus. An dieser Hochschule haben meine Frau Dorothea und ich als Professoren unterrichtet. Auch die Hochschule wurde von der Explosion getroffen. In dem mehrstöckigen Gebäude sind fast alle Fensterscheiben zersplittert. Gottlob sind keine Menschen verletzt worden. In der Nähe liegt auch die kleine Kirche für die deutschsprachigen evangelischen Christen. Sie heißt Friedenskirche. Für Frieden im Libanon und in der ganzen Region betet die Gemeinde dort. Wir in Deutschland können die Menschen im Libanon unterstützen durch unsere Hilfe, Anteilnahme und Gebet.
(Dr. Hermann Vorländer)